- kanonische Schriften: Symbol der Tradition
- kanonische Schriften: Symbol der TraditionDie Begriffe »Klassiker« und »kanonische Schriften« oder »Bücher« (»jing« = Leitfaden) umfassen im engeren Sinn eine Gruppe von literarischen Werken, die, was die ältesten unter ihnen angeht, noch vorkonfuzianisch sind, aber angeblich von Konfuzius ausgewählt oder in die konfuzianische Tradition eingefügt wurden. Den ursprünglichen Kern bildeten die Wujing, die »Fünf Klassiker«, nämlich: »Yijing« (»Buch der Wandlungen«), »Shijing« (»Buch der Lieder« oder »Buch der Gedichte«), »Shujing« (»Buch der Urkunden«), »Liji« (»Buch der Riten«) und »Chunqiu« (»Frühlings- und Herbstannalen«). Das »Buch der Wandlungen«, an sich ein seit dem Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. entstandenes Orakelbuch, das im Lauf der nächsten Jahrhunderte durch Zusätze ergänzt wurde, entwickelte sich zu einem philosophischen Werk, das, namentlich mit der Idee zweier Grundkräfte des Seins (der hellen, männlichen Yang und der dunklen, weiblichen Yin), in der Folge von allen Weltanschauungen in China als eine Art naturwissenschaftliches Grundprinzip anerkannt wurde.Das »Buch der Lieder«, bestehend aus 160 »Liedern aus dem Volk«, 111 »kleinen und großen höfischen Liedern« und 40 zeremoniellen »Hymnen«, galt als ein Schatz von Kultur und (angeblich manchmal auch verschlüsselter) Weisheit. Das »Buch der Urkunden« enthielt vor allem überlieferte Ansprachen von Königen und hohen Staatsbeamten, in denen die Gründe für einen Dynastiewechsel dargelegt und so die Basis für das »Himmlische Mandat« als Legitimation weltlicher Herrschaft gelegt wurde. Das »Buch der Riten« bildete eine Zusammenstellung der Regeln für das soziale Verhalten, angefangen von Vorschriften zu Trauerfällen bis hin zu Anweisungen zum Familienleben, die sich in ihrer Kompliziertheit sichtlich an die Oberschicht wandten, in Abstufungen aber auch das Verhalten weniger hoher Schichten bestimmten. Die »Frühlings- und Herbstannalen«, die nicht nur von Konfuzius zusammengestellt, sondern tatsächlich von ihm selbst verfasst sein sollen, stellen eine knappe Chronik der chinesischen Geschichte von 722 bis 481 v. Chr. dar, gesehen aus der Perspektive seines Heimatstaates Lu. Ihr Zweck bestand darin, durch Auswahl (einschließlich bewusster Verschweigung!) und Begriffsverwendung bei der Schilderung ein moralisches Urteil abzugeben, also zum Richter der Geschichte zu werden.Diese fünf Urklassiker wurden später durch zwei weitere Ritenbücher sowie durch drei Kommentare zu den »Frühlings- und Herbstannalen« ergänzt. Unter den letzteren interpretierten zwei, das »Gongyang zhuan« (»Kommentar des Gongyang«) und das »Guliang zhuan« (»Kommentar des Guliang«) katechismusartig die erwähnte ethisch motivierte Terminologie der Annalen, der dritte namens »Zuozhuan« (»Kommentar des Zuo«) seine geschichtliche Aussage. Das geschah mit einer solchen Ausführlichkeit, dass er den Grundtext quantitativ und (aus historischer Perspektive) auch qualitativ durch seine Daten, Schilderungen und Anekdoten weit in den Schatten stellte. Mit seinen langen erzählerischen Passagen, die auch viele direkte Reden enthalten, übte es nicht zuletzt auf die Entwicklung der Erzählliteratur einen beträchtlichen Einfluss aus. Im philosophischen Bereich war die Bevorzugung, die ein Konfuzianer entweder den beiden erstgenannten, gewissermaßen »esoterischen« Kommentaren oder dem letztgenannten »exoterischen« dritten entgegegenbrachte, maßgebend für seine eher ins Übernatürliche gehende oder mehr im Bereich des rein Rationalen bleibende Auffassung von der Bedeutung des Konfuzius auf Erden.Der Kreis der offiziellen Klassiker wurde ergänzt durch das »Xiaojing« (»Klassiker der Kindesliebe«) und interessanterweise auch durch ein frühes Wörterbuch namens »Erya« (»Fortschritt zur Klarheit«). Entscheidender war im 12. Jahrhundert die unter dem Einfluss des »Neokonfuzianismus« erfolgte Inthronisierung einer neuen Gruppe von Klassikern, den »Sishu« (»Vier kanonischen Büchern«), die nun den Konfuzianismus viel eindeutiger als in den alten kanonischen Schriften ins Zentrum rückten, und zwar den Konfuzianismus jener Richtung, die durch den Philosophen Mengzi repräsentiert war. Diese »Vier Bücher« umfassten das »Lunyu«, »Gespräche (des Konfuzius)«, »Mengzi«, »Lehren (des Philosophen Mengzi«), »Daxue« (»Große Lehre«) und »Zhongyong« (»Maß und Mitte«), die beiden letzteren verselbstständigte Auszüge aus dem alten »Buch der Riten«. Sie drängten die ursprünglichen »fünf Klassiker« etwas in den Hintergrund und trugen damit indirekt zu einer gewissen Verengung - und damit auf lange Sicht Schwächung - des Konfuzianismus bei.Die kanonischen Schriften wurden in verschiedenen Zusammenstellungen seit 175 n. Chr. wiederholt in Stein gehauen. Ihr Ewigkeitswert sollte damit in aller Öffentlichkeit dokumentiert werden. Am eindrucksvollsten unter diesen Skulpturen sind die 837 entstandenen »Zwölf Klassiker« auf 114 Stelen, die noch heute einen Hauptteil des berühmten »Stelenwaldes« in Xi'an bilden. Diese Verherrlichung der kanonischen Schriften beruhte sicher auf ideologischen Gründen. Aber sie war auch sachlich gerechtfertigt, denn ihre Bedeutung für die Ursprünge der chinesischen Geisteskultur kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Charakteristischerweise erscheinen sie in der traditionellen Bibliographie bis in die neueste Zeit hinein unter den vier Grundabteilungen, den Siku (»Vier Schatzkammern«), stets an erster Stelle, gefolgt vor den »Historikern«, den »Philosophen« (und anderen Wissenschaftlern) und den »Literaten« im weitesten Sinn, die in gewisser Hinsicht alle ihren Ausgang von den kanonischen Schriften nahmen.Will man ihre drei entscheidenden Wirkungsbereiche aufzeigen, so sind es die folgenden: Erstens bildeten die kanonischen Schriften die Grundlage der Ethik und damit, politisch gesehen, auch die jeder Ideologie. Obwohl später auch Buddhismus und Daoismus jeweils einen eigenen »Kanon« ihrer wichtigsten Schriften vorlegten, die aber nie die gleiche Geltung erlangten wie der konfuzianische, wirkten die Klassiker weit über den Konfuzianismus hinaus, und zwar insofern, als sie wissenschaftliche Weltsicht (»Yijing«), ästhetische Grundeinstellung (»Shijing«), politische Herrschaftslegitimation (»Shujing«), Sitte und Ordnung (»Liji«) sowie Geschichtsschreibung und Geschichtskritik (»Chunqiu«) grundlegten; sie vermittelten einen Leitfaden für das Leben in der Welt überhaupt. Zweitens waren sie absolut stilbildend für die gesamte vormoderne chinesische Literatur, soweit sie einen auch nur etwas höheren, offiziellen Anspruch erhob. Sie wurden ständig in Zitaten und Anspielungen wach gehalten und waren ohne Zweifel dafür verantwortlich, dass die »Schriftsprache«, die die Sprache der kanonischen Schriften bewahrte, bis Anfang des 20. Jahrhunderts die literarische Sprache schlechthin blieb. In den wichtigsten literarischen Disziplinen - Philosophie, Dichtung und Geschichte - lieferten sie sogar unmittelbar die Modelle. Drittens übten die kanonischen Schriften auch einen bedeutenden politischen Einfluss aus, weil sie bei den regulären, für den Staatsdienst vorgeschriebenen Beamtenprüfungen im Zentrum standen. Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. theoretisch eingeführt und etwa seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. rigoros durchgesetzt, prägten sie über zwei Jahrtausende lang (vor allem im letzten Jahrtausend) das Streben der chinesischen Bildungsschicht. Trotz mancher Versuche, diese erzwungene »humanistische« Bildung durch eine praxisorientiertere, auf Kenntnisse in Wirtschaft, Verwaltung und Naturwissenschaft ausgerichtete zu ersetzen, konnten die kanonischen Schriften ihren Platz behaupten.Die kanonischen Schriften haben also das geistige Leben des vormodernen China auf allen Ebenen grundlegend bestimmt. Trotzdem hatte sich die Bindung an sie im Lauf des letzten Jahrhunderts des Kaiserreichs bereits gelockert. Die förmliche Überschwemmung des chinesischen Antiquariatsbuchhandels mit kanonischen Schriften unmittelbar nach der Abschaffung der Beamtenprüfungen 1906, über die manche westliche Beobachter seinerzeit erstaunt berichteten, bewies schlagend, wie stark die geistige Elite sich damals innerlich bereits von diesen mehr zur Pflichtlektüre herabgesunkenen Werken gelöste hatte.Prof. Dr. Wolfgang Bauer (✝)Schmidt-Glintzer, Helwig: Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern u. a. 1990.
Universal-Lexikon. 2012.